Schöpferische Anarchie: Schönheit kann so kompliziert sein – Kompliziertes kann so schön sein

Let’s face it: FIONA APPLE ist ein Genie. Zumindest fällt mir keine andere gegenwärtige KünstlerIn im Bereich der Populärmusik ein, die solch schöpferisches und ausgeklügeltes Songwriting mit so packenden Melodien, Ohrwürmern und emotionaler Intensität hervorbringt – und nebenbei fantastisch singen kann und Klavier spielt. Nach sieben Jahren ist mit The Idler Wheel Is Wiser Than the Driver of the Screw and Whipping Cords Will Serve You More Than Ropes Will Ever Do endlich wieder ein neues Album der US-amerikanischen Sängerin, Pianistin, Songwriterin aus New York City erschienen. Und wer etwas Geduld hat, wird merken – es ist großartig!

Es ist noch komplizierter, noch unzugänglicher, noch störrischer, noch verrückter und noch direkter als ihre drei Vorgänger: noch weniger straighte Rhythmen, noch mehr schräge Percussion-, Klang- und Kakophonieeinsätze, noch vertracktere Melodiefolgen, Mehrstimmigkeit und Disharmonien, noch unkonventionelleres Songwriting. Kontinuerlich hat sich FIONA APPLE seit ihrem Debüt Tidal weiterentwickelt, das sie 1996 im Alter von nur 19 (!) Jahren veröffentlichte und welches ihr sofort einen Grammy einbrachte.

Obwohl ihr Songwriter-Pop mit Cabaret-Einflüssen anfangs noch von recht eingängigen Melodien gekennzeichnet war, verriet doch die Stimmgewalt, intensive emotionale Präsenz und der kompositorische Eigensinn, dass hier jemand keine Lust auf Musikindustrie-Kompromisse hat. Dann kam 1999 das immernoch recht zugängliche When the pawn (hits the conflicts he thinks like a king/What he knows throws the blows when he goes to the fight/And he’ll win the whole thing ‚fore he enters the ring/There’s no body to batter when your mind is your might/So when you go solo, you hold your own hand/And remember that depth is the greatest of heights/And if you know where you stand, then you know where to land/And if you fall it won’t matter, cuz you’ll know that you’re right).

Das dritte Album Extraordinary Machine war dann kommerziell schon nicht mehr erfolgreich, da eigensinniger und komplizierter in Songstrukturen und Komposition. Freilich sind die Texte von FIONA APPLE nicht für jedermann, der 08/15 Pop-Klischees über Liebe gerne mitträllert. Zwischenmenschliche Beziehungen sind bei der 35-jährigen Musikerin nämlich vor allem durch Kommunikationsunfähigkeit, Missverständnisse und zerstörerisches Verhalten gekennzeichnet. Aber nachdem FIONA APPLE uns durch ihre Musik Einblick in diesen ungemein intimen und persönlichen Alltagswahnsinn der Gefühle gewährt, scheint es legitim, sich daran zu berauschen. Selbst wer diesen nicht verstehen oder nachvollziehen kann, darf sich vom dichterischen Einsatz von Sprache/Worten als musikalische Akzentsetzung verzaubern lassen. Melodie und Gedicht verbinden sich bei FIONA APPLE sozusagen zu einem Melodicht.

Mit dem aktuellen The Idler Wheel … wird es im Mainstream wahrscheinlich nicht viele VerehrerInnen zu gewinnen geben, denn dieses neue Album eignet erst recht nicht für Menschen, die gerne mitgrölen. Und das ist gut so! Wer sich hingegen gerne bewusst mit Musik auseinendersetzt, ein Album auch gerne fünf mal am Stück durchhört und sich mit Song-Arrangements beschäftigen möchte, der wird hier wie auch sonst bei FIONA APPLE immer eine Goldgrube finden, deren Songs auch nach Jahren noch interessant und neu zu entdecken sind.

Deswegen kommt diese Review auch ein paar Monate zu spät nach dem Release der Platte im Juni: es dauert, bis sie sich in ihrer Tiefe erschließt – aber welche Belohnung, wenn es gelingt! Es lohnt sich im übrigen ein Kauf – egal ob physisch oder digital – nicht nur akustisch, sondern auch visuell, denn wie das Booklet enthüllt, ist FIONA APPLE auch eine begnadete, eigenwillige Malerin/Zeichnerin. Warum auch nur eins, wenn man beides kann? Es lebe der Non-Konformismus!

(Diese Rezension erschien zuerst auf Popmonitor.berlin.)

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FIONA APPLE
The Idler Wheel Is Wiser Than The Driver Of The Screw And Whipping Cords Will Serve You More Than Ropes Will Ever Do
(Epic/Sony Music)
VÖ: 15.06.2012

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