Die Überwachung als Normalzustand

In ihrer neuen Werkreihe Staat 1–4 erkunden Rimini-Protokoll das Treiben der Geheimdienste. Wen kontrollieren die Geheimdienste und wer kontrolliert sie? Welche Rolle spielen sie in der WeltpolitiK? In vier einzelnen Aufführungen können Zuschauer*innen die verborgenen Machtmechanismen der Welt durchleuchten. Ich habe am ersten Teil Top Secret International (STAAT 1) im Neuen Museum teilgenommen.

Rimini Protokoll, Top Secret International (Staat 1) | © 2018 Kevin Fuchs.

Am Eingang erhalte ich einen Kopfhörer und Notizblock, logge mich ins System ein und schon geht’s los. Über einen Peilsender im Notizblock bin ich nun im Neuen Museum verortbar und Teil der Inszenierung, vielleicht gar ihre Hauptakteurin. Denn von nun an dringen die Umgebungsgeräusche kaum noch zu mir durch, dafür begleiten mich zwei Stimmen im Kopf.

Eine Stimme dient mir als Erzähler, der mich in die Thematik der Geheimdienste einführt, mir Recherche-Ergebnisse präsentiert oder ehemalige Spione in Interviews zu Wort kommen lässt. Die andere Stimme ist das System, das mich im Museum orten kann. Sie wird mich immer wieder daran erinnern, das ich theoretisch beobachtet und überwacht werden kann, auch wenn ich mich selbstvergessen als eine anonyme Person unter vielen im Raum wähne.

Die Illusion von der Moral in der Politik

Der Parcours, den ich in den 90 Minuten durchs Museum zurücklegen werde, ist teils vorherbestimmt, teils das Ergebnis meiner Entscheidungen. Denn je nachdem, wie ich moralische Dilemmata durch Entweder-Oder-Fragen beantworte, werden unterschiedliche Erzählstränge eingeleitet. Würdest du jemanden foltern, um Menschenleben zu retten? Würdest du die E-Mails deines*r Partner*in lesen, wenn dir etwas verdächtig erscheint? Wie gehst du damit um, dass jemand dein Handy hacken und dich abhören kann?

Rimini Protokoll, Top Secret International (Staat 1) | Brooklyn Museum New York, präsentiert vom Goethe-Institut und The Public Theatre. © 2017 Ben Gancsos.

Es sind nun nicht gerade Fragen, die man sich seit Jakob Metzler, Abu Ghraib oder den regelmäßig aufgedeckten Datenskandalen nicht schon einmal gestellt hätte. Interessant aber werden sie dadurch, dass man beobachten kann, wie die anderen Teilnehmer*innen der Inszenierung denken. Denn die eigene Entscheidung muss man über eine bestimmte Haltung des Notizblocks ans System kommunizieren. Manche machen vorbildlich alle Aufforderungen des Systems mit, andere nehmen sich die Freiheit, gar nichts zu tun. Und nachdem die Technik nicht immer einwandfrei funktioniert, reicht auch das, um beim System eine Option zu triggern, ganz unabhängig davon, was man wirklich denkt.

Die Illusion von der anonymen, geschützten Privatsphäre

Lässt man die spannende Form der Vermittlung aber einmal beiseite und besinnt sich auf den vermittelten Inhalt, so bleibt leider nicht allzu viel Bemerkenswertes übrig. Es gibt interessante Anekdoten von Agent*innen und Journalist*innen über geheime Treffen. Es gibt überraschende Einblicke in die Banalität des Rekrutierungsprozesses der meisten Geheimdienste. Auch einige philosophische Gedankenklammern, die von der Königin Nofretete über den Gott Helios bis zum kriegerischen Wesen des Menschen führen, ergänzen den Gang durch das Neue Museum stimmig. Ansonsten erschließt sich nicht unbedingt, warum das Neue Museum die Kulisse für das Stück bietet.

Rimini Protokoll, Top Secret International (Staat 1) | Glyptothek München. © 2016 Gabriela Neeb.

Die zentralen Erkenntnisse nämlich, die sich aus den vom System eingeflüsterten Fragen ergeben, sind erschreckend banal: Spionage und Transparenz sind unvereinbar; wer leicht ethische Gewissensbisse bekommt, ist nicht für den Geheimdienst geeignet; die digitale Privatsphäre kann von Staaten kaum ernsthaft geschützt werden; wir übermitteln per Handy 24 Stunden am Tag Informationen über uns usw. Wer nicht politisch aktiv oder journalistisch tätig ist, dürfte für diese Hinweise auf die Allmacht der Geheimdienste mit einem Schulterzucken quittieren. Und wer sich einmal bewusst macht, wie viele Terroranschläge durch ihre Arbeit vermutlich schon verhindert wurden, wird froh um ihre Existenz sein. Angesichts dessen, worum es heute beim Datenklau von Privatmenschen und in der Wirtschaft geht, hat das Deutsche Spionage Museum derzeit die viel spannendere Fragestellung: „Wer weiß mehr über Dich: die NSA, die Stasi oder Facebook?“

Rimini Protokoll: Staat 1–4
Haus der Kulturen der Welt und weitere Spielorte
Top Secret International (Staat 1): 1.–25.3.2018
Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2): 1.–4.3.2018
Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3): 1.–4.3., 8.–11.3.2018
Weltzustand Davos (Staat 4): 8.–11.3.2018

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