Gewalttätige Traditionen – Zwischen Aufarbeitung und Reproduktion

Im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe beschäftigen sich die Mobile Akademie Berlin und das HUMBOLDT-FORUM mit der Frage nach der Darstellbarkeit und Sichtbarmachung von abwesenden Dingen und Wesen. In Teil 2 der Reihe ging es um Leerstellen zum Thema Sklaverei in den Archiven, Sammlungen und Ausstellungen von Museen. Das Humboldt-Forum will mit dieser Reihe seinem eigenen Anspruch eines „symmetrischen Dialogs der Kulturen“ gerecht werden und zugleich ein forum für Diskussionen schaffen.

DIE MOBILE BÜHNE DER MOBILEN AKADEMIE | © DAVID VON BECKER

Seit das Nutzungskonzept für das Humboldt-Forum im Stadtschloss offiziell ist, ertönen Begeisterung und Kritik gleichermaßen. Die Idee, in der Mitte Berlins ein Museum zu schaffen, das im äußerlich originalgetreu nachgebauten preußischen Stadtschloss der Kaiserzeit beheimatet ist und innen die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz beherbergt, halten manche für eine moderne und aufgeklärte Form der Geschichtsaufarbeitung. Andere sehen genau darin die Fortschreibung einer eurozentrischen, kolonialen Perspektive auf die Geschichte und werfen den Planer*innen Geschichtsvergessenheit vor. Denn der Reichtum der Preußischen Sammlungen beruht auf Ausbeutung, Ermordung und Raub und seine Darbietung könne daher niemals ein Austausch der Kulturen auf Augenhöhe sein.

Den Opfern eine Stimme geben

Saidiya Hartman, Literaturprofessorin und Autorin aus den USA, beginnt den Abend mit einer Lesung aus ihrem Buch Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route. Hartman hat eine als „critical fabulation“ bezeichnete Technik entwickelt, bei der sie Geschichts- und Archivrecherchen mit der kritischen Theorie und fiktiven Erzähl-Elementen verbindet. Dadurch sollen Lücken in der Recherche überbrückt werden, ohne deren Existenz zu leugnen oder unsichtbar zu machen. Im Fall der afroamerikanischen Geschichte, die Hartmans Forschungsschwerpunkt darstellt, verbergen sich hinter diesen Lücken die Stimmen all jener Menschen, die in der Versklavung gestorben sind und kein Zeugnis hinterlassen konnten.

Saidiya Hartman | © BRYONY MCINTYRE

Hartman geht es um eine Art der Totenforschung als politisches Forschungsprojekt. Denn die Allgegenwärtigkeit des Themas zeigt sich in der fortgesetzten institutionalisierten Abwertung von schwarzen Menschenleben, die mit der rassifizierten Sklaverei begann und heute in Polizeigewalt, Chancenungleichheit und Massenverhaftungen fortgeführt wird. Die Fülle der „unfulfilled futures“ sichtbar zu machen, der Millionen Menschenleben, die nicht stattfinden durften, ist ein zentrales Anliegen ihrer Untersuchung. Die Verbindung zwischen der Sklaverei der Moderne und dem heutigem Rassismus – das „Nachleben der Sklaverei“ – sichtbar zu machen, ist das andere.

Von der Geschichte zur Gegenwart

Mit ihr auf der runden Bühne in der Mitte des Raumes sitzen die Theoretikerinnen Ulrike BergermannKarin Harrasser und Gudrun Rath. Die drei Kunst-, Kultur- bzw. Medienwissenschaftlerinnen ergänzen Hartmans Text an einigen Stellen um Fußnoten mit eigenen Forschungsergebnissen. Es geht diesen Wissenschaftlerinnen neben der schwierigen Aufarbeitung einer ausgelöschten Geschichte auch um die Entkolonialisierung der eigenen Perspektive in der europäischen Wissenschaftstradition. Zwei Simultandolmetscher*innen übertragen diese Vorträge für das mit Kopfhörern ausgestattete Publikum mit beeindruckender Eloquenz ins Deutsche bzw. Englische.

ETIENNE TURPIN | CC

Nach dieser ersten Hälfte und einer kurzen Pause geht es um die Rolle von ethnologischen Museen bei der Sichtbarmachung dieser ausgelöschten Geschichte. Etienne Turpin, Philosoph und Designforscher, gibt in Form eines Briefes eine erste Antwort auf Hartmans Buch. Darin legt er nieder, welchen Einfluss das MuseuAfroBrasil in São Paulo auf seine Kurationspraxis hatte. Denn das Museum ist seiner Meinung nach ein Modell dafür, wie die positive Geschichte schwarzer Menschen (in diesem Fall in Brasilien) sichtbar gemacht werden könne, ohne nur immer wieder das Leid dieser Menschen aus Sicht der Kolonialisten auszustellen und dadurch (unbewusst) die dominante Perspektive zu verfestigen.

Das Museum als Ort einer Gegenerzählung
WAYNE MODEST | CC.

Anschließend reflektiert Wayne Modest, Leiter des Forschungszentrums für Material Culture des Amsterdamer Tropenmuseums, Museums für Volkskunde und Afrika Museum, in seiner Antwort über Sinn, Form und Wirkmöglichkeiten eines zeitgenössischen ethnologischen Museums. Er stellt sich die Frage, welches Ich in so ein Museum gehen würde, was es dort sehen und lernen könnte und welche Bezüge zur Gegenwart es dabei aufdecken müsste. Da die Abschaffung ethnologischer Museen – was wohl die einzig ernsthafte Beendigung dieser kolonialen Geschichtsschreibungspraxis wäre – in absehbarer Zeit nicht denkbar sei, müsse das Museum als solches neu erdacht werden.

Historisch gesehen würden die im Museum ausgestellten Exponate – z. B. menschliche Überreste, Artefakte, Fotos – zu etwas nicht mehr Menschlichem, sondern zu einem dinghaften Objekt von Studien. Diese Form des Verfügens über andere diene dem Westen als Weg, eine Beziehung zu den durch die eigenen Vorfahren verschuldeten Toten aufzubauen. Doch da die Macht über die Archive nach wie vor bei den Nachfahren der Kolonialherrscher liegt, diene das ethnologische Museum als integraler Teil dieser ausbeuterischen Struktur und Kultur am Ende wieder nur als Instrument der Herrschaft über andere. Letztlich, so schließt Modest wenig optimistisch, würden so die bestehenden Machtverhältnisse nur institutionalisiert.

Kann man das Richtige im Falschen tun?

Jedes Archiv enthält mehr Lücken als Elemente, das muss jedem klar sein. Statt Archive der Klassifizierung und Historisierung zu schaffen, sollten Archive die Sklaverei als Vergangenheit zeichnen, die die Gegenwart strukturiert. Es sollten Archive zur Wiedergutmachung und aktiven Auseinandersetzung sein, um eine Wiederholung der Geschichte zu verweigern. Das Selbstverständnis von Täterverwandten der nachfolgenden Generationen als Unbeteiligte und Unverantwortliche mag logisch richtig sein, wenn man es nur auf historische Ereignisse bezieht. Doch verstehen die Besuchenden sich und ihre Stellung in der gegenwärtigen Welt auch als Ergebnis dieser Geschichte?

NUTZUNGSKONZEPT HUMBOLDT-FORUM | © BERLINER ZEITUNG/RITA BÖTTCHER

Dies zu leisten, wäre also die Aufgabe ethnologischer Museen, wenn es sie denn überhaupt noch geben soll. Doch für eine solche Auseinandersetzung mit der eigenen Position bedarf es auf Seiten des Museumspublikums die Bereitschaft, radikal verändert zu werden. Für genau diese Auseinandersetzung, so die Vision der Beteiligten, sollte das ethnologische Museum den konstruktiven Rahmen bieten. Denn gerade das Museum sei der pädagogische Ort, sich eine andere Welt vorzustellen. Dafür müssten die Wissens- und Bildungsangebote aber für alle gleichermaßen kritisch erfahrbar sein und dürften den gewaltvollen Kontext nicht beschönigen.

GRUNDRISS | © BERLINER ZEITUNG

Was ist nun von so einer Veranstaltung des Humboldt-Forums zu halten – einem Museum, das eine halbe Million Artefakte besitzt, die als Raubschätze nach Berlin kamen? Nun, das Forum finanziert die öffentliche und offene Diskussion über seine Geschichte, bei der die Abschaffung solcher Einrichtungen wie dem Humboldt-Forum selbst gefordert wird. Das ist sicher löblich und wertvoll, um berechtigte Einwände bei der Umsetzung des Museumskonzepts zu berücksichtigen. Zugleich ist es aber auch nicht mehr als das Mindeste, was wir in einer pluralen demokratischen Gesellschaft von einer öffentlich (durch Steuergelder) finanzierten Institution erwarten dürfen. Sich Kritik öffentlich zu stellen – dafür gibt es keine Lorbeeren, das nennt man Anstand.

Ob eine Einrichtung wie das Humboldt-Forum in der postkolonialen und pluralen Gegenwart überhaupt noch eine Existenzberechtigung hat, ist äußerst fraglich. Das Forum wird sich daran messen müssen, ob es eine ernsthaft schonungslos kritische Aufarbeitung der Geschichte betreibt oder unter dem Denkmantel von Slogans wie „Ein Schloss für alle“, „Welt entdecken“ und „Vielfalt erleben“ den Stolz auf geraubten, exotischen Reichtum wieder aufleben lässt, an dem das Blut und die stummen Schreie seiner Schöpfer*innen kleben.

Ja, sollte man denn lieber all die Raubschätze und Gebeine zurückgeben und eine so lange Tradition westlicher Wissensbildung abschaffen? Tja, warum eigentlich nicht? Zugegeben, für europäische Verhältnisse wäre dies eine radikale Lösung. Aber sie ist weder undenkbar noch unmöglich. Allein der Wille fehlt.

Das Milieu der Toten. Teil 2.
Eine Zusammenarbeit zwischen der Mobilen Akademie Berlin und dem Humboldt-Forum.
4. und 5. Dezember 2017 in der St. Elisabeth-Kirche in Berlin.

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