Vom Kampf um die Sichtbarkeit

Weißes Ameisenrauschen auf den Leinwänden, ein dumpfes Wummern aus den Lautsprechern – elektrisches Surren und tiefe Atemzüge erfüllen den Raum. Es ist, als befänden wir uns im Inneren eines Organismus, der uns ein- und ausatmet und mittendrin krakeln antropomorphe Wesen in beigen Ganzkörperschleimhäuten über die Bühne. So beginnt „Alien“ von animi motus und TIM RUBEL HUMAN SHAKES, eine Tanzperformance im Spannungsverhältnis zwischen Ich-werdung und Zugehörigkeitsbedürfnis.

Eröffnungsszene ALIEN | Foto: Malcolm Wallace.

Unendlich langsam und mühsam tasten sich die 8 Tänzer*innen auf Händen und Füßen vor, verrenken und verbiegen sich wie eine Spezies, die nicht an ihre Umwelt angepasst ist. Dabei blitzen immer wieder für Sekundenbruchteile Bilder von Nazis, Rassist*innen und Mobs auf den Leinwänden auf – wie Störsignale auf der Frequenz eines Piratensenders. Die Choreografie variiert zwischen kollektivem Ritual und individueller Ausdruckskraft. Die Körper werden sich im Laufe des Stücks emanzipieren, ihre Stimme und Worte finden und am Ende die Sichtbarkeit der eigenen Person einfordern. Doch bis dahin ist es ein langer Weg, auf dem sie immer wieder in Endlosschleifen gefangen sind.

Jedes Motiv dieses Entwicklungszyklus wiederholt sich öfter als man es erwartet – und fordert das Publikum heraus wie eine hängende Schallplatte. Diese Arbeit, diesen Widerstand gegen das körperliche Gefangensein im Moment muss man aushalten. Und darin offenbart sich die allmähliche Ermüdung und Erschöpfung des Einzelnen im Kampf um Anerkennung. Der von David Molina komponierte sphärische Soundtrack liefert eine großartige akustische Kulisse, die Organisches und Abstraktes kunstvoll vereint.

Die Körper erkunden sich selbst und einander | Foto: Malcolm Wallace.

Die Körper beschnuppern und betasten sich wie Tiere. Sie tanzen in erratisch-ekstatischen Zuckungen zwischen Wut und Entschlossenheit und sind reiner Impuls. Dann wieder suchen sie nach zärtlicher Berührung und Intimität. Die getanzten Bilder sind physisch gewordene Redewendungen: jemandem Steine in den Weg legen; an seiner freien Entfaltung gehindert werden; Hindernisse überwinden. Die Körper werden abgeschirmt, können ihre Bewegungen nicht zu Ende bringen – Energie staut sich an und auf und entlädt sich aggressiv. Irgendwann gehen sie die Wände hoch und wollen ausbrechen, die Grenzen ihrer Umgebung sprengen. Grenzen, die auch Gesetze sein können, das legt ein Paragraphenzeichen auf der Leinwand nahe.

Die Gruppe schleudert einzelne in einer Endlosschleife herum | Foto: Malcolm Wallace.

Im Finale fordern die Körper lauthals: „See me!“ Sieh mich! Sieh mich als Individuum, als einzelne Person! So wie wir dich, die tumbe einförmige Masse der Gesellschaft, jeden Tag sehen, all jene, die dazu gehören und durch ihre Blindheit die Unsichtbarkeit der Ausgegrenzten fortschreiben.

Publikumsansprachen im Theater sind immer etwas sehr Unbequemes – und das ist gut so. Weil sie uns zwingen, unser Verhältnis zum Bühnengeschehen aktiv zu reflektieren. Doch vielleicht hätte es manchen eindeutigen Satz oder manch überdeutliche Videosequenz gar nicht gebraucht, um das sichtbar zu machen. Denn mahnende Worte aus den Mündern vorwiegend privilegierter Körper haben immer einen etwas selbstgerechten, moralisierenden Anstrich. Die Choreografie allein hingegen wirkt viel unmittelbarer und überzeugender, um diese Geschichte von Entfremdung und Emanzipation spürbar zu erzählen.

ALIEN von Elisabeth Kindler-Abali und Tim Rubel
Pfefferberg Theater, Berlin
8. und 9. September 2018

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