2:0 für das Team Chris Dercon an der Volksbühne

Gestern eröffnete die Volksbühne mit „A Dancer’s Day“ ihre neue spielstätte im Hangar 5 am Tempelhofer Flughafen. Es ist viel gestritten worden über die Berufung von Chris Dercon auf die Stelle als Intendant der Volksbühne. Der gestrige Abend gibt ihm für seine Vision erst einmal Recht. Denn mit seinem Konzept einer Volksbühne – also einem Theater für das Volk – hat er Berlin in die Gegenwart geholt. Endlich gibt es auch hierzulande eine zeitgenössische Bühne für die zeitgenössische Inszenierung von Körpern.

Der Nachmittag beginnt um kurz nach 16 Uhr mit einer Aufwärmung für das Publikum. Unter der Anleitung von 24 Tänzer*innen aus dem Ensemble vom Musée de la danse machen die Besucher das tägliche Programm eines professionellen Tänzers mit. Über den 4000 qm großen Hangar verteilt, trainieren sie in Grüppchen Körperspannung, Gleichgewicht und Improvisation. Wer nicht mitmachen will, bleibt auf der Tribüne, beschäftigt sich mit seinen Begleitern oder seinem Handy oder beobachtet einfach nur. Menschen gehen hinein oder hinaus. Manche stehen im Souterrain bei Wasser, Wein oder Bier. Ein offener Raum für jeden, der sich ein Ticket leisten konnte.

Das 1:0 erzielt Francis KérÉ

Das Konzept des Raumes und der Bühne stammt vom Architekten Francis Kéré. Es baut auf der Vision eines „Totaltheaters“ von Erwin Piscator und Walter Gropius auf. Die beiden hatten sich in den 1920er Jahren einen Bühnenraum für ein „egalitäres Massentheater“ erdacht. Es ging dabei darum, die Trennung zwischen Publikum und Schauspielern sowie jegliche soziale Rangordnung aufzuheben.

Der riesige Hangar 5 nun bietet Raum für eine solch offene Bühne vor schönstem Berliner Industriecharme aus Ziegelsteinwänden, Stahlträgern und Beton. Durch die meterhohen Fenster dringt das untergehende Sonnenlicht. In der Mitte ist ebenerdig ein Tanzboden ausgelegt. Auf einer Seite steht eine Tribüne mit 400 Sitzplätzen. Dennoch kann man 360° um den Tanzboden in der Halle umhergehen und ist dazu auch eingeladen. An diesem Abend wird mindestens so viel gestanden und gelaufen, wie gesessen. Und das ist in der Tat eine willkommene Abwechslung in der deutschen Bühnenlandschaft, die Kéré räumlich kuratiert hat.

Um 17 Uhr endet das Warm-up und Choreograph Boris Charmatz lädt zu einer Publikumsübung auf Deutsch-Englisch-Französisch ein. Menschen aller Altersgruppen, Körperformen, Kleiderstile und Sprachen machen mit. Von herumtollenden Kleinkindern bis hin zu schlohweißen Rentnern tummeln sich etwa 50 Menschen zwischen Gelächter, sportlichem Ehrgeiz und Ausdruckstanz. Selten kommen Publikumsbesucher in konventionellen Bühnenräumen so direkt miteinander in Kontakt, in Blickkontakt oder körperlichen Kontakt, geschweige denn ins Gespräch, in Interaktion und Gemeinschaft.

Das ist mehr Bürgernähe, niedrigschwelliges Kulturangebot und Volkstheater als die Volksbühne in den letzten Jahren mit ihren oft theorieüberlasteten und verkopften Beiträgen bieten konnte. Es ist übrigens zugleich Kunstarbeit Open Source – Offenlegung der Ursprünge, Methoden und des Prozesses sowie direkter Austausch zwischen Machern und Mitmachern. Auch das ist zeitgemäß und erfrischend. Nach einer Stunde und vielen Wiederholungen führen diese Menschen aus dem Publikum eine Kurzversion der „10 000 Gesten“ auf. Man kann jedem Einzelnen den Eifer und die Freude an der eigenen Leistung und Schöpfung vom Gesicht ablesen.

Gastspiel von Tino Sehgal

Im Anschluss findet die konstruierte Situation „Picknick“ von Tino Sehgal statt. In der Halle werden Decken ausgebreitet; wer will, macht es sich darauf bequem und verspeist die an der Bar besorgten Snacks und Getränke. Irgendwann tritt ein nackter, männlicher Tänzer auf (Frank Willens) – „(Ohne Titel) (2000)“ heißt diese Inszenierung, ebenfalls von Sehgal. Willens führt zwischen den Picknickdecken hindurch das Bewegungsrepertoire des Tanzes aus dem 20. Jahrhundert auf. Es ist ein bisschen schade, dass er ganz nackt ist, denn in den ersten 20 Minuten blickt jeder vor allem auf das Körperglied, das unter den Muskelzuckungen nun mal am meisten wirbelt. Die packende virtuose Körperperformance bekommt dadurch erst nach einer Gewöhnungsphase die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Auch die künstlerische Notwendigkeit des Pinkel-Abgangs am Ende erschließt sich nicht von selbst.

Nach dem Ereignis von Tino Sehgal liegen die Menschen noch eine Weile verstreut in der Halle umher, schlafen, essen und reden oder sie gehen vor die Tür. Irgendwann werden die Decken eingesammelt, das Publikum selbst sammelt sich wieder auf der Tribüne und es wird dunkel und still. Als nächstes steht nämlich die Uraufführung von „10 000 Gesten“ auf dem Programm. Reflektierender Bühnenboden wird über dem Tanzboden ausgerollt und durch die riesigen Hangarfenster dringt nur noch fahles Dämmerlicht herein. Eine andächtige und knisternde Stimmung.

Für das 2:0 zeichnen Boris Charmatz und sein Ensemble verantwortlich

Für das nun folgende brilliante Lichtdesign des Abends darf man Yves Godin danken, der die imposante Architektur der Halle großartig durch verschiedene Lichtstimmungen zu inszenieren weiß. Über das äußerst starke Anfangsbild mit erst einer und dann den anderen 23 Tänzer*innen sei nur so viel verraten: es geht ein spürbares Luftanhalten durch das Publikum, als sie den Raum betreten. Dieser kraftvolle Auftritt alleine – als sinnliche Erfahrung für Auge, Ohr, Gänsehaut und Raumsinn – ist reine Poesie.

Das Stück „10 000 Gesten“ lässt sich als Vokabular menschlicher Gefühlsarchetypen beschreiben. Mit der Aufgabe, über 60 Minuten hinweg präzis voneinander unterschiedene Gesten darzustellen, ohne eine einzige je zu wiederholen, entfaltet sich eine Abfolge von 24 persönlichen Interpretationen aller Erfahrungen zwischen Grauen und Groteske. Auf das Requiem von Mozart wird gerannt, geschrien, gelacht, mal obszön, mal zärtlich, oft allein und zuweilen in akrobatischen Gruppen. An einigen wenigen Stellen wollen Musik und Emotion auf der Bühne nicht ganz zusammengehen und gegen die Gewalt und Schönheit des Mozartschen Requiems kommt man nunmal nicht an. Das ist aber auch das einzige Manko des Abends.

TecHno nach Theater und Duo im NACHTSCHEIN

Am Ende gibt es für diese Aufführung Bravo-Rufe und stehenden Applaus. Kaum ist dieser verebbt, ziehen die Tänzer*innen das Publikum auch schon wieder von der Tribüne in die Halle, denn nun gibt es eine Stunde lang Techno-Party mit T.Raumschmiere an den digitalen Plattentellern. Der Hangar 5 erweist sich dabei dank Surround-Sound, toller Lichtshow und monumentaler Architektur als Location, die dem Berghain mindestens ebenbürtig ist – dank Fenster ist sie tatsächlich viel berückender.

Zum Abschluss um 21.40 Uhr treten Boris Charmatz und Emmanuelle Huynh zu Motiven aus Ravels Boléro auf. Auf einem ungefähr sechs mal sechs Meter großen Podest führen sie eine Stunde lang in Zeitlupe Bewegungen aus, mit denen sie sich suchen, finden und wieder trennen. Das Publikum steht, sitzt oder läuft im Kreis um die Bühne herum und taucht mit ein, in diesen tranceartigen vom Licht umrissenen Tanz der Silhouetten, bei dem nichts weiter passiert, als dass eine Stimmung so lange eingefangen wird, wie der Körper sie halten kann.

Von 16 Uhr nachmittags bis viertel vor elf in der Nacht war man hier nicht einfach in einer Tanzvorstellung, sondern hat Tanz, Raum und Körper (mit)erlebt. Statt Frontalunterricht immersive Kunst. Vielleicht ist die Volksbühne damit näher als je zuvor an dem dran, was Piscator und Gropius mit ihrer Vision eines Volkstheaters erreichen wollten.
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VOLKSBÜHNE
Boris Charmatz
Musée de la danse
A Dancer’s Day
14.09.-16.09.2017 ab 16 Uhr (Aufführung 19.30 Uhr)
17.09.2017 ab 14 Uhr (Aufführung 17.30 Uhr)
Tempelhof Hangar 5
Tickets: 20 EUR

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