Summa cum laude: Copy and Paste oder nur Plagiat? Sekundärliteratur zu ELLIOTT SMITH

Das Warten hat ein Ende. Acht Jahre nach seinem letzten (posthumen) Meisterwerk, stellt ELLIOTT SMITH sein neues Album vor: Balloon Pilot. ELLIOTT SMITH tritt jetzt unter gleichnamigem Pseudonym als 5-köpfige Bandpersönlichkeit auf. Jemand, die nicht wüsste, dass ELLIOTT SMITH diese Welt bereits hinter sich hat, würde mit Sicherheit glauben, Balloon Pilot sei die angekündigte Platte. Was fängt man jetzt mit dieser Feststellung an? Es wirkt schließlich immer etwas befremdlich, wenn Musiker zu eindeutige Assoziationen wecken. Und das romantische Ideal vom genialen Künstler sollte man in der Realität nicht überstrapazieren. Aber BALLOON PILOT belassen es nicht bei Anleihen oder dem Durchklingen ihres Einflusses (ich bevorzuge den Singular, auch wenn sie mehrere Einflüsse auf der Homepage angeben). Während das Album hier im Hintergrund immer wieder durchläuft, erkenne ich langsam sogar die einzelnen, zusammengesetzten Bausteine aus ELLIOTT SMITH-Songs und die Befremdlichkeit schlägt in Unverständnis um.


Das selbstbetitelte Debütalbum klingt wie ein Cover-Album von ELLIOTT SMITH, nur dass die Akkorde irgendwie leicht vertauscht wurden, so dass man die Songs nicht auf Anhieb erkennt. Ich werfe nochmal einen Blick ins Presskit und schreibe der Agentur, um sicher zu gehen, dass die Platte nicht explizit als ELLIOTT SMITH-Tribute angekündigt ist. Der Kontext mag den Ausschlag geben: nein – wird hier als BALLOON PILOT Eigenwerk betitelt. Will man einem hier weismachen, zufällig genau so zu singen, klingen, stimmen wie ELLIOTT SMITH? Seelenwanderung als Schicksal und Berufung? Doch sicher nicht. Zumindest Gitarre, Drums und Spureffekt sind ja bewusst gemischt und, naja, könnten eben auch Samples von ELLIOTT SMITH-Alben sein. Ebenso das Arrangement der Stimmen, der Hall auf den Vocals, der Dialekt und die Betonungen, wie wann welche Silbe gezogen wird – oder kommt hier jemand zufällig aus Omaha oder Portland? Ich konsultiere nochmals die Quelle: nein, Munich and Berlin. Ok, man kann durchaus beeindruckt sein, wie man so originalgetreu einen Gitarren-, Wurlitzer-, Drum- und vor allem den Vocal-Sound und die Stimmlage kopieren kann. Vielleicht sollte man erwähnen, dass Wortwahl und thematische Auseinandersetzung nicht etwa aus der Geistesverwandtschaft ausgenommen werden, um hier Eigenes zu beweisen. Da war jemand vielleicht im früheren Leben in ELLIOTT’s Kopf oder hat alte Notizhefte im Archiv aufgestöbert. Also bitte!

Hier ein kurzer WikiLeaks-Auszug zur eigenen Plagiats-Recherche, complete Open Source:

BALLOON PILOT / ELLIOTT SMITH (mal mehr die Töne, mal mehr die Worte)

‘Insecure’ / Coast to Coast, Pretty (Ugly Before), Last Call, et al.

‘Just Another Tale’ / Miss Misery (alles! besonders das erste Wort), Between the Bars (alles), Tomorrow Tomorrow et al.

‘Chasing Games’ / Christian Brothers (Intro, Drums, alles), Speed Trials (dito + man achte auf den Titel) et al.

‘Bargain Street’ / Son of Sam (kompletto Aufbau, Struktur, Spannungsbogen, Intro incl. wann die Gitarre sich wie verzerrt), Junk Bond Trader (dito + besonders der Gesang) et al.

‘The Perfume’ / die eindeutige ‘Eigenkomposition’, trotzdem ein bisschen Alphabet Town

‘Blame it On The Rain’ / Oh, da sind ja doch ganz deutlich (sic!) die Eels

‘Don`t Call’ / Cupid’s Trick, Fear City, et al.

‘Illusion Day’ / Georgia, Georgia, Angeles, Condor Ave., (Division Day? Independence Day?), et al.

‘Prudence’ / Shooting Star, Bled White, Let’s Get Lost, et al.

‘Slippin Through The Backdoor’ / True Love, No Name #2, Talking to Mary, et al.

‘50 Cent Day’ / Angel in the Snow, Miss Misery, Angeles, Pitseleh et al.

‘The Manual’ / Between the Bars, No Name #3, Miss Misery, Pitseleh, et al.

“Talent borrows, genius steals”, wie wir seit KURT COBAIN wissen (vgl. NIRVANA ‘Come as You are’ und ‘Eighties’ von KILLING JOKE). Leider ist es bei BALLOON PILOT weder noch, sondern Guttenberg, als er behauptete, eigene Gedanken formuliert zu haben. Aber vielleicht ist es ungerecht, hier eine neue Variante als Zitat zu verkennen: man spielt nicht Cover, weil man es ohnehin nicht so gut machen kann, wie das ELLIOTT-Original; aber man will, dass ELLIOTT weiterlebt und stellt die Reinkarnation; nicht nur den Spirit, sondern die perfekte Imitation. Und was das Cover von BELLIOTT PILOT betrifft, äh … ich meine den roten Luftballon in Schwarz-Weiß-Welt aus ELLIOTT’s Videoclip zu ‘Son of Sam’… ok, klar ist das eine Hommage. Aber ist das nicht auch ein bisschen zu viel der Ideenlosigkeit? Auch das typische ELLIOTT-Artwork, die Lyrics handschriftlich abzudrucken, haben BALLOON SMITH als Zitat eingebracht … ach nee, wieder umgekehrt. I’m sorry, aber mir scheint hier wirklich der clevere Clue zu entgehen. Nichts Ganzes und nicht gar Nichts – dabei sollte man gerade als ELLIOTT SMITH-Fan wissen: ‘Either/Or’.

Vielleicht muss ich mir hier kurz in die eigene Feder greifen, damit kein falscher Eindruck von der Qualität der Musik entsteht: Die ist durchwegs wunderschön und gut geschrieben – melancholischer Pop für Fans von … haha. Nur ist es eben doch nicht ELLIOTT. Weder so traurig und düster, noch so ergreifend und leidenschaftlich und sicher nicht so brillant im Songwriting. Aber der warme Sound und sehr hübsche Melodien. Oder sagen wir so: ELLIOTT’s schwächstes Album bisher. Aber da kann man ja offenbar noch Nachfolger erwarten. Wie die Leserschaft merken wird, I’m fishing for words. Ich würde sehr gerne etwas zu BALLOON PILOTs Musik schreiben, das sich nicht in ELLIOTT-Vergleichen ergeht, doch ich warte vergeblich auf etwas, dass mich ELLIOTT umgehen lässt. Wie man eine Rot-Grün-Blinde ewig auf die Zahl zwischen den Punkten hinweisen kann, so erscheint es mir zu gehen: ist einfach nicht. Da taucht keine zweite Ebene dahinter, davor oder daneben auf. Leider sind die Songs, die dann ein bisschen ‘eigener’ und weniger nach ELLIOTT klingen, auch die schwächsten Nummern der Platte. Ich neige nicht zu Wortwiederholungen, aber wenn den Leser mittlerweile ein sehr bestimmtes Gefühl von überstrapazierter, penetranter Deutlichkeit erfasst hat, dann ist meine Plattenkritik auf Umwegen doch noch zu einem Fazit gekommen.

Listen to ELLIOTT SMITH – if you like him, you might love BALLOON PILOT. If you love him, you might probably not like them too much. It’s that simple. Vielleicht ist es eben ein bisschen wie mit Guttenberg: wer’s als Wikipedia-Eintrag liest, dem wird das Delikt banal erscheinen. Wer weiß, was dahinter steckt, kann die Selbstbetitelung einfach nicht unkommentiert hinnehmen.

„Be influenced by as many great artists as you can, but have the decency either to acknowledge the debt outright, or to try to conceal it. Don’t allow ‚influence‘ to mean merely that you mop up the particular decorative vocabulary of some one or two poets whom you happen to admire.“ (Ezra Pound) www.curatorscode.org

(Diese Rezension erschien zuerst auf Popmonitor.berlin.)

________________
BALLOON PILOT
Balloon Pilot
(Eigenvertrieb)
VÖ: 27.02.2012

http://www.millaphon.com/
http://www.balloon-pilot.de
https://www.facebook.com/pages/Balloon-Pilot/104125449680789

Zurück zum blog!